Evangelische Landeskirche in Baden
Evangelischer Oberkirchenrat - Rechtsreferat
Rundschreiben 3 / 2008
Neue Freistellungsansprüche nach dem Pflegezeitgesetz
vom 14. Oktober 2008
I. Allgemeine Anmerkungen
Mit dem "Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung (Pflege-Weiterentwicklungsgesetz)" vom 28. Mai 2008 wurde eine weitere Pflegereform vorgenommen. Maßgeblicher Teil dieses Gesetzes ist Artikel 3, das neue "Gesetz über die Pflegezeit (Pflegezeitgesetz)", das seit dem 1. Juli 2008 in Kraft getreten ist. Dieses Pflegezeitgesetz ist - neben dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz - eine der umfassendsten Änderungen im Individualarbeitsrecht der letzten Zeit.
Es werden weitgehende Freistellungs- und Teilzeitansprüche gewährt. Daneben wird ein weitgehender Sonderkündigungsschutz festgeschrieben. Ziel des Gesetzes ist es, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Möglichkeit zu eröffnen, pflegebedürftige nahe Angehörige in häuslicher Umgebung zu pflegen und damit die Vereinbarkeit von Beruf und Familienleben zu verbessern. Der Gesetzgeber wollte die Pflege - insbesondere die Sterbebegleitung - durch Familienangehörige ermöglichen.
Im Folgenden werden die wichtigsten Teilbereiche des Pflegezeitgesetzes kurz dargestellt.
II. Besondere Anmerkungen
1. Persönlicher Anwendungsbereich/Begriffsbestimmungen - § 7 Pflegezeitgesetz
Beschäftigte im Sinne des Pflegezeitgesetzes sind nicht nur Arbeitnehmer, sondern nach § 7 Abs. 1 Pflegezeitgesetz auch zu ihrer Berufsbildung Beschäftigte und Personen, die wegen ihrer wirtschaftlichen Unselbstständigkeit als arbeitnehmerähnliche Personen anzusehen sind. Es ist bereits hier hinzuweisen, dass die Einbeziehung auch der arbeitnehmerähnlichen Personen unter den Geltungsbereich des Pflegezeitgesetzes rechtssystematisch ungewöhnlich ist; dies insbesondere im Hinblick auf den Kündigungsschutz nach § 5 Pflegezeitgesetz und hinsichtlich der Arbeitszeitregelung, da die arbeitnehmerähnlichen Personen im Wesentlichen ihre Arbeitszeit selbst bestimmen.
Der sehr weite Angehörigenbegriff des § 7 Abs. 3 Pflegezeitgesetz zählt zu den nahen Angehörigen neben Eltern, Großeltern und Schwiegereltern auch Ehegatten, Lebenspartner, Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft, Geschwister, Kinder, Adoptiv- oder Pflegekinder, die Kinder, Adoptiv- oder Pflegekinder des Ehegatten oder Lebenspartners sowie Schwiegerkinder und Enkelkinder.
2. Kurzzeitige Arbeitsverhinderung - § 2 Pflegezeitgesetz
§ 2 Pflegezeitgesetz gibt den Mitarbeitern ein Recht, der Arbeit "fernzubleiben"; sie können bis zu maximal 10 Arbeitstagen von der Arbeit fernbleiben, wenn bei einem nahen Angehörigen unerwartet eine besondere Pflegesituation eintrifft. Es muss sich hierbei um eine "akut auftretende Pflegesituation" handeln, die eine Arbeitsbefreiung notwendig macht. Dies bedeutet, dass eine Arbeitsbefreiung nicht möglich ist bei einer in absehbarer Zeit drohenden Pflegebedürftigkeit oder bei einer bereits bestehenden Pflegebedürftigkeit, wenn keine besondere Veränderung vorliegt.
Der Zeitraum der Arbeitsfreistellung beträgt bis zu 10 Arbeitstage. Wenn auch im Pflegezeitgesetz keine Legaldefinition für "Arbeitstage" zu finden ist, so gilt doch die allgemeine arbeitsrechtliche Definition: Arbeitstage sind alle Kalendertage, an denen der Arbeitnehmer dienstplanmäßig, betriebsüblich oder laut Arbeitsvertrag zu arbeiten hat oder zu arbeiten hätte, wenn nicht ein gesetzlicher Feiertag vorliegt.
Da der Gesetzeswortlaut von "bis zu 10" Arbeitstagen spricht, ist davon auszugehen, dass auch eine kürzere Frist in Anspruch genommen werden kann.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind gemäß § 2 Abs. 2 Pflegezeitgesetz verpflichtet, dem Arbeitgeber ihre Verhinderung an der Arbeitsleistung und deren voraussichtliche Dauer unverzüglich mitzuteilen; dem Arbeitgeber ist auf Verlangen eine ärztliche Bescheinigung vorzulegen. In der Literatur wird empfohlen, dass der Arbeitnehmer grundsätzlich nicht ohne Bescheinigung des Arztes nach § 2 Abs. 2 Pflegezeitgesetz der Arbeit fern bleibt.
Das Pflegezeitgesetz enthält keine Entgeltfortzahlungspflicht des Arbeitgebers während der kurzzeitigen Arbeitsverhinderung. In § 2 Abs. 3 Pflegezeitgesetz ist der Arbeitgeber nur zur Fortzahlung der Vergütung verpflichtet, soweit sich eine solche Verpflichtung aus anderen gesetzlichen Vorschriften oder aufgrund einer Vereinbarung ergibt.
In der Gesetzesbegründung zu § 2 Abs. 3 Pflegezeitgesetz wird auf § 616 BGB sowie individual- und kollektivrechtliche Vereinbarungen hingewiesen. § 616 BGB setzt jedoch für einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung voraus, dass die Arbeitsverhinderung unvermeidbar war; fernerhin geht die Rechtsprechung von maximal fünf Tagen Arbeitsfreistellung aus.
Fernerhin wird § 616 BGB überlagert von § 29 Abs. 1 Buchst. 1 e TVöD-Bund für die Mitarbeitenden des öffentlichen Dienstes. Danach können Mitarbeitende zur Betreuung eines in einem Haushalt lebenden, erwachsenen schwer erkrankten Angehörigen lediglich einen Anspruch auf bezahlte Arbeitsbefreiung von einem Arbeitstag im Kalenderjahr geltend machen. Dies bleibt erheblich hinter der Rechtslage des § 616 BGB zurück.
Dieser Arbeitsbefreiungsanspruch ist nicht von einer bestimmten Betriebsgröße oder einer bestimmten Wartezeit, sprich Mindestbeschäftigungsdauer, abhängig. Vielmehr steht dieser Arbeitsbefreiungsanspruch jeder Mitarbeiterin bzw. jedem Mitarbeiter zu.
3. Pflegezeit - § 3 Pflegezeitgesetz
Nach § 3 Pflegezeitgesetz sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von der Arbeitsleistung vollständig oder teilweise freizustellen, wenn sie einen pflegebedürftigen nahen Angehörigen in häuslicher Umgebung pflegen (Pflegezeit). Unter häuslicher Umgebung ist nicht ausschließlich der Haushalt der pflegebedürftigen Person zu verstehen. Weder aus dem Text des Gesetzes noch der Gesetzesbegründung lässt sich eine derartige Einschränkung herleiten. Vielmehr soll dem Wunsch des pflegebedürftigen Menschen Rechnung getragen werden, durch vertraute Angehörige in gewohnter Umgebung gepflegt zu werden.
Das Recht auf Freistellung hängt von der Pflegebedürftigkeit des Angehörigen im Sinne von §§ 14, 15 SGB XI ab.
Die Pflegezeit beträgt maximal sechs Monate.
Im Unterschied zur kurzzeitigen Arbeitsverhinderung nach § 2 Pflegezeitgesetz besteht der Anspruch auf Pflegezeit nach § 3 nur gegenüber Arbeitgebern, die mehr als 15 Beschäftigte haben. Auch hier ist eine Wartezeit, die Mindestbeschäftigungsdauer, nicht erforderlich.
Die Pflegezeit ist dem Arbeitgeber spätestens 10 Tage vor deren Beginn schriftlich anzukündigen, wobei zugleich mitzuteilen ist, für welchen Zeitraum und in welchem Umfang die Freistellung von der Arbeitsleistung in Anspruch genommen werden soll.
Nach § 3 Abs. 2 Pflegezeitgesetz ist die Pflegebedürftigkeit des nahen Angehörigen durch die Vorlage einer Bescheinigung der Pflegekasse oder des Medizinischen Dienstes dem Arbeitgeber nachzuweisen.
Der sechsmonatige Anspruch auf Freistellung kann - wenn mehrere der Angehörigen pflegebedürftig sind - für eine Mitarbeiterin bzw. einen Mitarbeiter (dann mit den Rechtsfolgen des Sonderkündigungsschutzes nach § 5 Pflegezeitgesetz) gewährt werden.
Die Frage, ob die Splittung der sechsmonatigen Pflegezeit möglich ist, ist wohl dahin zu beant-worten, dass eine Aufteilung der Pflegezeit nicht der Intention des Gesetzgebers entspricht, der mit dem Pflegezeitgesetz eine dauerhafte ambulante Pflege durch Angehörige fördern wollte.=> *
Preis/Nehring vertreten in dem oben genannten Aufsatz die Auffassung, dass mehrere Angehörige bei ihren Arbeitgebern nacheinander Pflegezeit für dieselbe pflegebedürftige Person beantragen können. Unklar sei hingegen, ob der Gesetzgeber mehreren Angehörigen gleichzeitig zur Pflege ein und derselben Person das Recht auf Freistellung geben wollte.
Sofern die Mitarbeiterin bzw. der Mitarbeiter eine vollständige Freistellung von der Beschäftigungspflicht verlangt, kann der Arbeitgeber diesen Antrag bei Vorliegen der Voraussetzungen nicht ablehnen (vgl. auch hierzu § 3 Abs. 1 Satz 2 Pflegezeitgesetz "Anspruch nach Satz 1 …"). Lediglich bei einem teilweisen Freistellungsantrag (Pflegezeit) bedarf es einer entsprechenden Vereinbarung zwischen dem Arbeitgeber und dem Mitarbeitenden.
4. Kündigungsschutznorm - § 5 Pflegezeitgesetz
Von der Ankündigung der kurzfristigen Arbeitsverhinderung bzw. der Pflegezeit bis zu deren jeweiliger Beendigung darf der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis nicht kündigen. Ein "nachwirken-der Kündigungsschutz" für die Zeit nach Beendigung der Pflegezeit besteht nicht.
Wie bereits oben ausgeführt, ist es bemerkenswert, dass der Kündigungsschutz nach § 5 Pflegezeitgesetz auch für arbeitnehmerähnliche Personen greift; obwohl der allgemeine Kündigungsschutz nach § 1 Kündigungsschutzgesetz sich nur auf Kündigungen gegenüber einem Arbeitnehmer bezieht.
5. Schlussbemerkungen
Insbesondere während der Pflegezeit nach § 3 Pflegezeitgesetz ist die sozialrechtliche Absiche-rung zu klären. Eine bessere finanzielle Absicherung im Pflegezeitgesetz wäre sicherlich wün-schenswert gewesen. Auch wird die "Auslegung" einzelner Bestimmungen bzw. Begriffe, wie z. B. "… in einer akut auftretenden Pflegesituation …" (§ 2 Abs. 1) oder "… von der Ankündigung bis zur Beendigung …" (§ 5 Abs. 1) abzuwarten sein.
in Ergänzung zu unserem Rundschreiben 3/2008 zum Pflegezeitgesetz teile ich Ihnen folgendes mit:
4. Februar 2009
Nach § 5 Abs. 1 Pflegezeitgestz darf das Beschäftigungsverhältnis von der Ankündigung bis zur Beendigung der kurzzeitigen Arbeitsverhinderung nach § 2 oder der Pflegezeit nach § 3 nicht gekündigt werden.
In besonderen Fällen kann eine Kündigung von der für den Arbeitsschutz zuständigen obersten Landesbehörde oder der von ihr bestimmten Stelle ausnahmsweise für zulässig erklärt werden.
Mit beigefügter Verordnung ( Verordnung des Ministeriums für Arbeit und Soziales über die Zuständigkeiten nach dem Pflegezeitgesetz und über die Gebühr für die Erklärung der Zulässigkeit einer Kündigung vom 15. Dezember 2008) [47 KB] wurde als zuständige Landesstelle der Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden Württemberg erklärt.
Ich bitte die beigefügte Verordnung zu beachten.
_________________________________________________________________
* NZA 13/2008 - Prof. Dr. Ulrich Preis und Linda Nehring, Köln zum Pflegezeitgesetz,
ZMV 4/2008 - Hans Peter Zetl, Neue Freistellungsansprüche nach dem Pflegezeitgesetz